Der CFO, der die Notbremse zog, um sich selbst und das Unternehmen vor großem Schaden zu bewahren

von Michael Nowarra




… oder: Die Mission Wahrheit und die Geburtsstunde des Chief Finance & Reality Officer.

Obwohl es nicht seine originäre Aufgabe als CFO war, hat Frank W. aus Sorge um das Unternehmen und nicht zuletzt um sich selbst die Notbremse gezogen und direkt konzeptionell in die Vertriebsarbeit – genauer: Pipeline-Management und Forecasting – eingegriffen. Wenn hier schon systematisch mit Un- oder Halbwahrheiten gearbeitet wird, kann es dann auch woanders so sein?

Was würde das für Vertrauensbildung, für eine ehrliche, ungeschönte und wahrheitsgemäße Darstellung der Unternehmenssituation oder die einzelner Bereiche, für das Fundament seiner Budget- und Investitionsentscheidungen, für seine Finanzkommunikation, sein Risikomanagement, für seine Rolle als strategischer Berater des CEO oder für seine Verantwortung für die Einhaltung gesetzlicher oder anderer Vorschriften bedeuten? Schwebte da ein Damokles-Schwert über seinem Haupt?

Aus diesen Befürchtungen heraus verschrieb sich Frank einer ungewöhnlichen, persönlichen Mission: Die Suche nach der Wahrheit und die Bereitschaft, sich auch konzeptionell einzumischen.

Ein kleiner Exkurs zur Einordnung:

  • Laut einer Studie von PwC („Jäger oder gejagter“) sind 86% der CFOs davon überzeugt, dass sie 2025 den größten Wertbeitrag durch datengestützte strategische Beratung der Geschäftsführung erbringen werden. Ebenso wichtig wird die Unterstützung bei (Des-)Investitionsentscheidungen eingeschätzt. Dabei handelt es sich um neue, erweiterte Aufgaben des CFO.
  • Weiterhin: die Hälfte der CFOs hat (noch) kein Zielbild für den Finanzbereich. Die Umsetzung bei der anderen Hälfte der CFOs wird durch festgefahrene Unternehmensstrukturen (68%), Kapazitätsengpasse (55%) und mangelnde Change-Management-Bereitschaft (42%) ausgebremst.
  • In einem Interview mit dem Controller Institut beantwortete Gerhard Schwartz dir Frage nach der Ausgestaltung der CFO-Funktion wie folgt: „Moderne CFOs versuchen laufend Wertsteigerungspotenziale zu identifizieren, Innovation zu fördern … und dabei Risiken und Opportunities transparent zu machen.“
  • Und weiter: „Am bemerkenswertesten ist für mich sicherlich der dramatische Wandel weg von einer Position, die sich häufig nur auf die Sicherstellung qualitativ hochwertiger Vergangenheitsdaten beschränkt hat, hin zu einer stark gestaltenden Funktion, die zusätzlich transparente Entscheidungsgrundlagen schafft …“.

 

Eine Bedrohung für das Unternehmen und für ihn persönlich

Doch von Anfang an: Das Unternehmen plante eine dringend benötigte Kapitalerhöhung in beträchtlichem Umfang. Die Altinvestoren bestanden auf einer Due Diligence. Natürlich gehörte auch der Vertrieb dazu, und zwar mit den Prüfungsschwerpunkten „Umsatz-Forecast“ und „Sales Pipeline“.

Frank konnte es nur vermuten, aber vieles sprach dafür, dass diese beiden Prüfungsschwerpunkte etwas mit der Zuverlässigkeit der in der Vergangenheit vom Vertrieb gelieferten Informationen zu tun haben könnte.  Allzu oft wurde das nämlich in den Aufsichtsratssitzungen zum Thema. Insbesondere die quantitative Bewertung der Pipeline hatte immer wieder weit daneben gelegen: über 70% der Opportunities in der Pipeline auf Null abzuschreiben war nicht ungewöhnlich! Diese „Spielräume“ wurden vom Vertriebsvorstand immer wieder im Forecast „eingepreist“ und mit viel Sachverstand erklärt.

Möglicherweise haben seine Erklärungen jetzt aber an Glaubwürdigkeit deutlich eingebüßt. Die Pipeline musste nämlich in der Due Diligence offengelegt und glaubwürdig (!) kommentiert werden.

Was auch immer der wahre Hintergrund war, eines war Frank völlig klar: Wird dieses Problem nicht zur Zufriedenheit der Prüfer und Investoren gelöst und kommt es wieder zu einer signifikanten Fehleinschätzung, konnten sie die Kapitalerhöhung vergessen, das Unternehmen würde aus dem Tritt geraten und er könnte sich von seinem Job verabschieden. CEO und CSO würden nämlich sofort die Schuld bei ihm als Herrscher der Zahlen suchen.

Fünf Gründe, warum er interveniert hat

Was hat ihn zu dem außergewöhnlichen Schritt veranlasst, dem Vertrieb und den Daten, die er liefert, nicht mehr zu vertrauen und stattdessen seine Arbeitsweise auf Herz und Nieren zu prüfen?

Eine kurze Zusammenfassung der Gründe:

  1. Die gelieferten Informationen entsprachen offensichtlich nicht der Realität, waren also nicht wahrheitsgemäß.
  2. Von den rein sachlichen Gründen abgesehen lag hier eine konkrete, persönliche Bedrohung Er konnte nämlich ohne wahrheitsgemäße Informationen seine Pflichten nicht erfüllen und seiner Verantwortung nicht gerecht werden.
  3. Weiterhin trieb ihn ein rein emotionaler Aspekt: was würde es bedeuten, wenn er über die Jahre hinweg mit Un- und Halbwahrheiten manipuliert wurde? Er wäre als CFO und als Mensch doch kompromittiert!
  4. Von Seiten des Vertriebs waren keine Impulse oder Bestrebungen, die Situation zu verändern, zu erwarten. Der Vertrieb war nämlich aus politischen oder Kompetenzgründen Verursacher.
  5. Er war der Einzige, der es sofort durchziehen konnte: qua Funktion als CFO war er an allen wesentlichen Entscheidungen, die Geld betrafen, maßgeblich beteiligt. Er konnte die Ressourcen des Unternehmens mitlenken und -kontrollieren! Damit hatte er eine immense Macht. Außerdem war es die Organisation schon gewohnt, dass er als CFO überall intervenieren konnte und das auch tat.

Wie sollte er vorgehen? Wie kurzfristige Ergebnisse erzielen, denen er vertrauen konnte?

Was eine Quick Due Diligence alles ans Tageslicht brachte

Unglücklicherweise verstand Frank zu wenig von Vertrieb, um die „Mission Wahrheit“ bzw. die Analyse der Pipeline selbst zu übernehmen. Jede Unsicherheit oder jede Wissenslücke seinerseits hätte die Mission und seine Stellung als CFO und Person weiter nachhaltig beschädigt.

Deshalb bat er einen unabhängigen, objektiven, außenstehenden, „mit allen Wassern des Vertriebs gewaschenen“ und methodisch versierten Experten, zur Sicherheit eine Art Vor-Due Diligence für ihn persönlich durchzuführen. Der Arbeitsauftrag lautete:

  • die wahren Gründe finden, warum Pipeline und Forecast immer daneben lagen,
  • zuverlässige Zahlen für die Due Diligence vorlegen und später
  • eine geeignete Methode zur wahrheitsgemäßen Darstellung der Pipeline vorschlagen, die dann als verbindlich eingeführt werden sollte.

Der Experte besuchte jedes einzelne Vertriebsteam und besprach mit Teamleitung und den Vertriebsmitarbeitern detailliert jede einzelne Business Opportunity in ihrer Pipeline. Um die Wahrheit möglichst systematisch und über alle Organisationseinheiten vergleichbar herauszufinden, hatte er einen kleinen Fragenkatalog vorbereitet, anhand dessen er die 2 wichtigsten Fragen klärte: Wie wurde die Business Opportunity qualifiziert und wie anschließend bewertet?

Die Kurzversion der Ergebnisse:

  • Die Qualifizierung war in vielen Fällen ungenügend (entscheidende Information zu den Business Opportunities, den Kunden, dem möglichen Transaktionsvolumen, den Entscheidungsträgern oder dem Status der Entscheidungsfindung waren nicht oder unvollständig erhoben worden, entscheidende Personen nicht bekannt oder nicht angesprochen).
  • Die quantitative Bewertung war systematisch grob fahrlässig: beispielsweise wurden Opportunities mit einen Projektvolumen von €500.000 und einer Wahrscheinlichkeit von 40% mit €200.000 (implizit zu 100%) in die Pipeline/den Forecast aufgenommen.

Es lagen also systematische Defizite vor.

Dass man mit der Wahrheit im Sinne von „der Realität entsprechend“ auch anders umgehen kann, zeigt ein anderes Beispiel aus der Praxis: als ein Bekannter von mir zum Vertriebsleiter EMEA eines schwedischen Software-Herstellers berufen wurde, machte man ihm klar, dass Abweichung um mehr als 5% zum Forecast als persönliches Management-Versagen interpretiert und sanktioniert würde.

Als Frank seine persönliche „Mission Wahrheit“ begann, konnte er noch nicht ahnen, dass daraus eine neue, vom Aufsichtsrat formell bestätigte Aufgabe als CFO erwachsen würde. Der Chief Finance & Reality Officer war geboren!

Wenn Sie mehr über das Schicksal von Frank W. oder andere CF&ROs wissen möchten, können Sie sich gerne an mich wenden.

Stay critical and courageous!

Über Michael Nowarra – Executive Advisor und Channel Think Tank

Michael Nowarra gehört seit mehr als 20 Jahren zu den ungewöhnlichsten Köpfen des Channel Business.

Mit seiner Alliance-Bliss-Methode hilft der Executive Sidekick seit Jahren CFOs und CEOs dabei, bisher unentdeckte aber konkret vorhandene Bedrohungen aufzudecken, an sich unvermeidbare Krisen abzuwehren, durch gezielte Intervention das scheinbar Unmögliche in und mit ihren Channel-Organisationen zu erreichen und deutlich wahrnehmbare Akzente zu setzen.

Im Zentrum seiner Arbeit steht die Wahrheit über das (eigene) Channel Business.